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Herkunft – Heimat – Fremdheitserfahrung | Migrationserleben in historischen Kontexten Mit der Präsentation der vier unterschiedlichen Texte über persönliche Erfahrungen mit dem Verlust der Heimat und Konfrontation mit einer gänzlich neuen Umgebung lädt die ULB alle Mitglieder der Universität ein, ihre Gedanken, Kommentare, Notizen und kritischen Anmerkungen zu den Texten mitzuteilen.

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Americanische Reiß-Beschreibung (1723)

Franz Xaver Urfarer (geb. 1691)
Herkunft: Regensburg
Migration: Mexico – Marianeninseln
Migrationsgrund: Religiöse Mission

Der Autor ist ein bayerischer Geistlicher, Angehöriger des Jesuitenordens, was man an dem Zusatz „Soc.(ietas) Jesu“ hinter dem Autorennamen sowie seinen Vornamen erkennen kann, die sich auf den heiligen Franz Xaver, einen Mitgründer des Ordens, beziehen. Sein 1723 verfasster Bericht über die Reise nach und den Missionsaufenthalte in Mexico und auf den Marianeninseln ist eine historische Quelle für die geistigen Grundlagen und Leitmotive der Jesuitenmission in Übersee.

Die Lektüre des Textes vermittelt eine Vorstellung von der tiefen Überzeugung und dem ausgeprägten Idealismus, womit zahlreiche europäische Missionare im 17. und 18. Jahrhundert entschlossen waren, der indigenen Bevölkerung den wahren Glauben bringen und dadurch diese und sich selbst zur Erlösung in Gestalt ewiger Seligkeit verhelfen wollten. Die Prägung durch ihre Herkunft sorgte dafür, dass sie zum Erreichen dieser Ziele zu massiven Entbehrungen bereit waren. Die Haltung, mit der man sich zum Zweck einer Auswanderung auf Zeit bereit erklärt, ist charakterisiert durch Demut und Stolz zugleich.

Meine Auswanderung nach Amerika (1829)

… nebst Bemerkungen über den kirchlichen, ökonomischen und moralischen Zustand der dortigen Deutschen und Winke für Auswanderungslustige

Jonas Heinrich Gudehus (1776- 1831)
Herkunft: Remlingen, Niedersachsen
Migration: USA
Migrationsgrund: Berufliche Situation

Es ist eine typische Auswanderungsgeschichte des frühen 19. Jahrunderts. Der Autor fühlt sich in einer unbefriedigenden, zu Beginn des Buches kurz angedeuteten, beruflichen Situation und erhofft sich von den Verheißungen des freiheitlichen Umfeldes und der uneingeschränkten Möglichkeiten der Lebensgestaltung, die den Ruf der USA damals begründeten, einen Neuaufbruch.

Der Text ist eine detailreiche und lebendige Schilderung der Verhältnisse, die er in den bestehenden Gemeinden deutscher Migranten vorfindet und gewährt authentische Einblicke in die damalige Lebenswirklichkeit. Dazu gehören auch kurios wirkende Auslassungen über das von den Eingewanderten gepflegte sprachliche „Mischidiom“ aus deutschem Dialekt und englischer Aussprache.

Zentrales Motiv im Bezug zu „Herkunft“ ist die Reibung der Leitkultur des Herkunftslandes an den ungewohnten Gewohnheiten und Überzeugungen des Einwanderungslandes, auf die die Gemeinschaft der Einwanderer mit kulturellen Anpassungen reagiert. Der Migrant empfindet schmerzlich die Kluft zwischen seinen herkunftsgemäßen Überzeugungen, die auf dem evangelischen Glauben und gewohnten kirchlichen Strukturen mit ihrer „wohlthätige(n) Strenge“ beruhen, und dem laxen Umgang mit religiöser Erziehung, für die er sich in der neuen Heimat verantwortlich fühlt, und er empfindet persönliche Enttäuschung über die mangelnde Würdigung seines Engagements im neuen beruflichen Umfeld.

Besonders eindrücklich wirkt das mit spürbarer Empörung geäußerte Unverständnis über gewisse „zügellose“ Freiheiten im Umgang mit – religiösem – Schulunterricht und Gottesdienst, wobei die Irritation aus der Beobachtung entsteht, dass die eingewanderten Landsleute dieser Liberalität gerne folgen.

Bewegend wirken die Warnungen an potentielle Auswanderer zu enttäuschten Hoffnungen, Heimweh und geistiger Einsamkeit in der bäuerlichen Umgebung, wo es zu harter körperlicher Arbeit keine Alternative gibt.

Siebzig Jahre. Geschichte meines Lebens. (1896)

Otto Roquette (1824 – 1896)
Herkunft: (Vorfahren) Frankreich – Schlesien
Migration: Darmstadt
Migrationsgrund: Karriere

„Öfters fremd in neuen Umgebungen“

Die Autobiographie des Historikers und Literaturwissenschaftlers Otto Roquette (1824-1896), seit 1868 Professor am Polytechnikum – der Vorläuferinstitution der TH/TU – in Darmstadt, beschreibt mehrere Erfahrungen von Herkunft, Abreise und Neuankunft, die sich zudem auf verschiedenen Ebenen abspielen:

  • der Vertreibung der hugenottischen Vorfahren aus Frankreich im 17. Jahrhundert,
  • die nach etlichen Wanderungsbewegungen die Familie immer weiter Richtung Osten bis ins polnische Grenzgebiet führte;
  • der dreifache Wechsel des Studienortes, ebenfalls quer durch Deutschland von Ost (Berlin) nach West (Heidelberg) und zurück in den Osten (Halle);
  • die erste Anstellung in Dresden;
  • schließlich die Berufung nach Darmstadt.

Für den Bezug zu „Herkunft“ sollen das erste Kapitel (Geschichte und Stationen der hugenottischen Familie) einer- und der letzte Abschnitt des ganzen Buches ab dem 16. Kapitel (Zeit in Darmstadt) andererseits, wo Roquette selber einen besonderen „Wendepunkt“ sieht, herausgehoben werden. In diesen Abschnitten wird die Herkunftsthematik exemplarisch dargestellt: die Familienherkunft aus der Heimatvertreibung und der„Kulturschock“ als Wissenschaftler preußischer Herkunft in Darmstadt als zwei Pole eines von ständigen Wechseln des Aufenthaltsortes geprägten Lebens. Dass dabei das Heimatgefühl und der subjektive Heimatbegriff sich sozusagen gewohnheitsbedingt wandeln, führt in der Beschreibung der Eigenheiten Darmstadts teilweise zu ironischen Brechungen ähnlich denen, die von Stanišić eingesetzt werden. Die Darmstadt-Kapitel sind in weiten Teilen vergleichbar vergnüglich zu lesen.

Man erfährt aus distanzierter Perspektive des Neubürgers zahlreiche historische Details die zugleich ein zeitloses Verhalten der Menschen spiegeln; so wirkt beispielsweise die Passage über die Reaktionen auf Roquettes Weigerung, die in Hessen übliche Beamtenuniform zu tragen, wie ein „shitstorm“ in heutigen Internetnetzwerken.

Die Schilderung wechselt immer wieder ab zwischen Betrachtungen zur großen Politik und Beobachtungen menschlicher Eigenarten. Der Kern der Schilderung ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Platz im Leben – der inneren und äußeren Heimat.

Postkarte an Hans Schiebelhuth (1941)

Brief an Fritz Usinger (1947)

An die Deutschen (Erstausgabe 1947)

Sang aus dem Exil (Erstausgabe 1950)

Karl Wolfskehl (1869 – 1948)
Herkunft: Darmstadt – München
Migration: Auckland, Neuseeland
Migrationsgrund: Flucht vor Verfolgung

„Exul poeta (Verbannter Dichter)“

Die Fremdheitserfahrung ist auch hier eine zweifache: aufgrund der Judenverfolgung durch das NS-Regime fühlt sich der Angehörige einer hochangesehenen, im deutschen Bildungsbürgertum fest verankerten Darmstädter Bankiersfamilie auf einmal fremd im eigenen Heimatland. Sein Vater Otto Wolfskehl war als Bauherr tätig, der sich u. a. für den Ausbau des Polytechnikums (Vorläufer der TH/TU Darmstadt) engagierte.

Karl Wolfskehl erforschte als Germanist und Schriftsteller zeit seines Lebens auch die kulturhistorische Tradition des Judentums, verstärkt in den Jahren des Exils. Voller Ensetzen über den rasch zunehmenden, offiziell betriebenen aggressiven Antisemitismus, über dessen Unerbittlichkeit er sich keinerlei Illusionen machte, kehrte er bereits 1933, unmittelbar nach dem Reichtagsbrand, Deutschland den Rücken und ging zunächst nach Italien, das für ihn schon länger zweite Heimat war.

Der tiefe Schnitt, das Abbrechen aller Brücken zum Herkunftsland und damit der Übergang auf die eigentliche Fremdheitsebene vollzog er 1938 infolge der Annäherung des faschistischen Italien an das nationalsozialistische Deutschland mit der Emigration nach Neuseeland: auf „Erdballs letztes Inselriff“ in größerer Ferne von Europa „als irgendein anderer Wohnpunkt auf dem Globus“ (Briefzitat KW 2.8.1946).

Die im Exil verfassten Dichtungen vermitteln eine teils schmerzhaften Auseinandersetzung mit Herkunft und Fremdheit. Der Verbannungsbegriff bezeichnet eine Ebene totaler Aussichtslosigkeit in extremer Ferne zur Heimat. Dennoch geschieht, neben allen in den Gedichten beschriebenen Gefühlen des Verlassenseins und der unüberwindbaren Ferne, etwas, das auch Stanišić aufzeigt: die Freisetzung neuer schöpferischer Kräfte gerade durch die Reibungsmomente mit und an der fremden Umgebung, die ihrerseits neuartige Reize auslöst.

Das Langgedicht „An die Deutschen“ zeigt mit vielen Anspielungen auf mythologische und literarische Inhalte die ebenso tiefe wie selbstverständliche Verwurzelung in der deutschen Kulturgeschichte und im zentralen Bezug aller Heimatvertriebenen zu ihrer Herkunft: der Sprache.

Ebenso ist stets die Thematik der religiösen Verortung präsent, ganz deutlich im posthum erschienenen Sammelband „Sang aus dem Exil“, wo der Dichter die Rolle der alttestamentarische Hiob-Figur zur symbolischen Intensivierung seiner Situation wählt. Neben dem Hadern mit dem Schicksal schaffen die vier Gedichte an dieser Stelle des Buches zugleich eine Atmosphäre des Ankommens und neue Hoffnung schöpfend. Mit Beschwörung der Sprache als universalem Zeichensystem, wird im Text der Anstoß zu neuer Bewegung in positiver Offenheit auf die neue Lebensumgebung gegeben.

Die hohe künstlerische Produktivität bildete gleichermaßen Kontrast und seelische Bewältigung der bedrückenden Lebensumstände des erblindeten und verarmten Dichters in den 10 Exiljahren bis zu seinem Tod, wie sie in zwei originalen Briefe an die hessische Dichtergefährten Hans Schiebelhuth und Fritz Usinger ebenso individuell authentisch wie exemplarisch beschrieben werden.

Wenige Monate nach diesem Brief schrieb Fritz Usinger in den Hessischen Nachrichten einen Nachruf auf Wolfskehl, in dem er „An die Deutschen“ als „gewaltigstes Gedicht der deutschen Emigration“ bezeichnet. In jedem Falle sind alle eine hochverdichtete Auseinandersetzung mit Herkunft, die in totaler Abgeschiedenheit ausschließlich geistig stattfinden kann.

Zu einer Rückkehr Karl Wolfskehls nach Deutschland, die von Mitgliedern seines Freundeskreises nach dem Krieg engagiert geplant und vorbereitet wurde, ist es nicht mehr gekommen. Der Dichter aus Darmstadt ist in Auckland begraben.